Acht Jahre arbeitete ich als Pastor an einer Berufsschule in Hannover. Religion zu unterrichten war eine meiner Aufgabe, Seelsorge eine andere. Ein kleiner stiller Raum stand für Gespräche zur Verfügung.
Zuweilen saßen mir Schüler, Schülerinnen gegenüber, die selbst an heißen Sommertagen langärmlige Kleidung trugen. Ihre Unterarme waren voller Narben und frischer Wunden, die sie versteckten. Sie verletzten sich selbst mit Rasierklingen oder scharfen Messern, Ritzen genannt. Zeigten sie mir ihre zerfurchten Arme, verspürte ich den Wunsch, die Wunden und Narben vorsichtig zu berühren und zu streicheln. Ich hatte das Gefühl, diese Arme schreien nach Zärtlichkeit. Ich tat es nicht. Könnte missverstanden werden. Was konnte ich tun? Nicht viel.
Aus der Apotheke besorgte ich Wundsalbe und gab sie dem Schüler: „Salbe deine Arme vorsichtig damit ein, damit die Wunden verheilen. Wenn es geht, einmal am Tag. Das tut gut.“
Meine Hoffnung war, dass die Schüler zärtlich zu sich selbst sind und ihrem Körper etwas Liebe geben durch das Salben ihrer Arme. Das ist nicht einfach für diese Schüler, ihren Körper, sich selbst zu lieben. Das ist ein langes Lernen und Verstehen für so manchen Menschen, sich selbst zu mögen, liebevoll und zärtlich mit sich umzugehen, mit seinem Körper. Ich meine nicht Selbstverliebtheit. Ich meine eine zärtliche und gnädige Liebe zu sich selbst aus einem Verstehen und Erkennen heraus, dass wir göttlich sind, so wie wir sind, Ebenbilder Gottes mit unseren hellen und schattigen Seiten, mit unserer Schuld und Unschuld. Es ist nichts Schlechtes an uns. Wir sind keine Sünder. Wir sind, was wir sind. Was sollte Gott davon haben, uns zu Sündern zu machen? Was sollte ihm daran gefallen, wenn wir uns selbst zu Sündern machen? Gar nichts. Überhaupt nichts.
Das Ritzen einiger meiner Schüler erinnert mich an eine Art der Buße, wie sie in der Bibel und in der Kirchengeschichte nicht selten zu finden ist. Menschen ritzen sich Wunden, fasten, peitschen sich blutig, scheren sich das Haupt kahl, verbieten sich Sexualität, verweigern sich dem Leben und gehen in die Wüste. Unzählige Varianten dieser Art von Buße gibt es.
Allen gemeinsam ist: Menschen entwerten sich selbst, um Gott für sich zu gewinnen. Und so wurde die Buße geübt in Zeiten persönlicher oder nationaler Not, um Gott gnädig zu stimmen und seine Strafe abzuwenden. Ich bestrafe mich selbst, verletze meinen Körper, damit Gott mich nicht bestraft. Ich demütige mich vor Gott, damit er gnädig ist. Ich lebe so, dass ich leiden muss, mache mir das Leben schwer, damit Gott mich wieder lieb hat.
Vielleicht ist es nicht einmal Gott, um dessen Gunst wir uns bemühen, sondern ganz einfach Vater und Mutter, deren Liebe wir nur bekommen haben, wenn wir bereit waren uns selbst aufzugeben. Einen schlimmen Satz, den Eltern zu ihrem Kind sagen können, ist: Wenn du dies oder jenes tust oder nicht tust, hat Mama, hat Papa dich nicht mehr lieb. Die Eltern brauchen die Liebe der Kinder nicht, aber das Kind braucht so sehr die Liebe der Eltern zum Leben und wird deshalb alles tun, sich verbiegen und sich aufgeben, sich verleugnen und entwerten, um die Liebe der Eltern zu bekommen. So ein Kind wird später Schwierigkeiten haben, sich zu zeigen wie es wirklich ist, denn die Angst ist groß: Wenn ich mich zeige, wie ich bin, wenn ich tue, was ich fühle, sage, was ich denke, dann werde ich nicht mehr geliebt.
Ich habe meine Zweifel, ob es gut ist, Gott als Vater zu bezeichnen. Die Gefahr ist, unsere Vater- und Elternerfahrung auf Gott zu übertragen. Gott ist Gott, weder Vater noch Mutter. Gott ist Gott und wir ihm ähnlich. Warum sollte Gott seine Zuwendung, seine Liebe an Bedingungen knüpfen, um uns zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen?
Wer lebt, kann der Schuld nicht ausweichen. Jeder von uns wird schuldig und ich vermag nicht zu sagen, ob ein Mensch viel oder wenig Schuld auf sich geladen hat am Ende seines Lebens. Warum sollte uns Gott für ein Leben zur Rechenschafft ziehen, dem wir nicht ausweichen können, weil wir Menschen sind? Warum sollte er das tun?
Leben will gelebt werden. Das ist unsere Aufgabe. Leben will nicht gemieden werden, weder Schuld noch Unschuld, weder Liebe noch Hass will gemieden werden. Alles will gelebt werden. Gott macht Dir keine Vorwürfe. Was sollte er davon haben? Er spricht Dich nicht schuldig. Warum sollte er, wenn Du der Schuld nicht entrinnen kannst? Er will nicht, dass Du Dich quälst, verbiegst, verleugnest, auf Leben verzichtest, Buße tust, um ihm zu gefallen. Gott ist Gott und Du gefällst ihm.
Mach Dir nicht zu viel Selbstvorwürfe. Lebe Dein Leben, spontan und voller Gefühl, sei gnädig mit Dir. Folge der Stimme Deines Herzens und trage tapfer die Folgen. Aus dem Herzen kommt so manch seltsames. Was gut und was schlecht ist, kann niemand sagen. Das Gute wendet sich zuweilen zum Schlechten und das Schlechte zum Guten. Gott ist mehr als Gut und Böse, viel mehr.
Ich habe wirklich meine Zweifel, ob es geschickt ist, Gott als Vater zu bezeichnen. Er wird doch sehr klein, wird zu schnell unser Vater im Himmel. Glaub mir, er ist größer als Du Dir vorstellen kannst. Der Himmel ist zu klein für ihn. Er ist mehr, als ein Vater.
Aber vielleicht ist es wichtig für dich, Gott als Vater zu lieben und zu vertrauen. Dann bleibe dabei, denn es ist wahr für dich. Ich beginne anders zu denken. Wir beide sind auf dem richtigen Weg, jeder in seinem Tempo und so wie es gut für ihn ist. Es gibt nicht den einen Weg.
Ich beginne anders zu denken und ich weiß nicht warum. Das ist eine Erfahrung, auf dem Weg, den wir gehen: Unser Denken und Empfinden kann sich ändern, unser Verständnis von Gut und Böse, von Ehe und Familie, von Krankheit und Gesundheit, von Kirche und Glauben, von Leben und Tod, von Gott und Mensch. Zuweilen versteht man sich selbst völlig neu. Das ist nicht immer angenehm, weil diese Veränderungen von Ängsten begleitet werden. Bin ich noch auf rechten Weg? Ist mein Denken noch in Ordnung? Es löst sich von der Tradition der Gesellschaft und Religion, in der ich groß geworden bin. Ich verlasse die heimliche Welt meiner Kindheit. Das Alte wird abgelegt wie eine Jacke, die nicht mehr passt. Die alte Jacke war gut, war modisch, hat mich hübsch gemacht, gewärmt in kalter Zeit und mich vor den Unbilden des Wetters geschützt. Aber mit den Jahren wurde sie enger, immer enger. Weil ich gewachsen bin. Aber es dauert, bis man sich von einem alten Stück trennt. Das ist gut so. Nicht zu schnell nach dem Neuen greifen. Sonst vergreifen wir uns. So ist das auf dem Weg, den man geht, irgendwann passt das Alte nicht mehr. Jesus hat das Buße genannt, Sinnesänderung, Neudenken: “Tut Buße“, hat er den Menschen zugerufen, “ändert euer Denken, euren Sinn und glaubt den neuen Ansichten, die ich biete, glaubt eurem Herzen, wenn es sich hingezogen fühlt zu meinen Worten. Zieht eure alten Jacken aus. Sie passen nicht mehr. Ich habe etwas Neues für euch”.
Die Menschen, die ihn hörten, hatten das Gefühl wirklich Neues zu hören. Er redete nicht wie ihre Priester. Er erzählte Geschichten über Gott und die Menschen in einer Art, wie ihre Gelehrten es nicht konnten. Eine neue Welt tat sich auf, eine Welt die größer und schillernder war als die Welt der Tradition und der heiligen Schriften, mit denen sie groß geworden sind. Das ist Buße, ein neues Denken, Verstehen, Erkennen bahn sich seinen Weg. Das kann man nicht machen. Es kommt, wenn die Zeit da ist, wie zurzeit Jesu.
Wenn die Zeit für Dich kommt, Du wirst sie merken. Die Jacke wird enger. Wenn sie zu eng wird, sei mutig, leg die alte Jacke ab und zieh Dir eine neue an. Sie ist Dir von Gott gegeben, wie auch die alte. Buße soll Dich groß machen, nicht klein, soll Dir mehr Bewegungsfreiheit geben, nicht einengen. Ich empfehle Dir, das alte Verständnis von Buße, sich als unwert zu erachten, sich Schmerz zuzufügen, um die Liebe von Gott, von den Eltern zu gewinnen, abzulegen. Es ist zu eng gedacht.
Du bist, was Du bist. Du machst Fehler und Du tust Gutes, Du liebst und Du hasst, Du verletzt und Du heilst, Du bereust und bist Dir gnädig, Du wirst krank und wieder gesund, von den einen wirst Du gemocht, von den anderen gemieden, den einen magst Du und den anderen meidest Du. Das ist Dein Leben und bevor Du Dich anklagst für irgendetwas, nimm Dich gnädig an als Ebenbild Gottes, als göttlich wie Du bist. Du weißt nicht, was Gutes werden kann aus Deinen Fehlern, aus Deiner Schuld. Die Dinge entwickeln sich sehr speziell. Ich denke an Judas, der Jesus verraten hat und an seinem Fehler verzweifelt ist. Dabei ist Gutes daraus geworden, denn er hat die Geschichte von Jesus bewegt, hat ihm geholfen seinen Weg zu gehen. Eine schwere Lebensaufgabe, wohl wahr. So wundert es nicht, dass er Abendmahl mitgefeiert hat. Jesus hat ihn nicht ausgeschlossen. Beim Abendmahl geht es nicht um Schuld und Buße in dem alten Sinn, sondern darum, das Leben schlicht zu nehmen wie es nun mal ist, Brot zu essen und den Wein zu trinken. Nimm Dein Leben gnädig an. Urteile nicht zu hart über Dich. Du bist göttlicher als Du denkst. Sei, was Du bist, mal freundlich, mal blöd, mal liebend, mal zornig, mal verrückt, mal bieder, mal verletzend, mal heilsam, mal böse, mal gut, mal traurig, dann voller Freude, mal krank, mal gesund. In allem dienst Du Gott und den Menschen. Du bist beides.
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