Es ist nicht wahr, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Sie gehen in die Kirche, in Scharen, Junge und Alte, Fromme und Unfromme, Kirchenmitglieder und Ausgetretene. Alles hat seine Zeit. Die Zeit des Kirchgangs ist der Urlaub. Im Urlaub gehen viele in die Kirche, was viele in der übrigen Zeit des Jahres nicht tun. Mag daran liegen, dass man Zeit hat, viel Zeit. Müßiggang setzt Flausen in den Kopf: Warum nicht mal in die Kirche gehen, wenn diese Antiquitäten schon überall herumstehen.
Im Urlaub ist die Hemmschwelle für einen Kirchenbesuch erstaunlich niedrig. Könnte daran liegen, dass sich niemand rechtfertigen muss, wenn er im Urlaub in die Kirche geht. Ganz anders Zuhause. Wenn da einer in die Kirche geht, der sonst nie geht, wundern sich die Leute: Der ist doch noch gar nicht so alt. Ist er fromm geworden, ist er etwa gläubig geworden, hat er Probleme? Im Urlaub ist der Kirchgang völlig harmlos. Niemand findet es seltsam. Ein Imageschaden ist nicht zu befürchten. Alles hat seine Zeit. Der Urlaub ist die Zeit des völlig ungefährlichen Kirchgangs.
Die meisten, die im Urlaub in die Kirche gehen, gehen nicht zum Gottesdienst in die Kirche, sondern um sie zu besichtigen. Kirchen sind Sehenswürdigkeiten. So mancher missbilligt das und meint, es wäre ein Missbrauch von Gotteshäusern als touristische Attraktion. Weit gefehlt. Denn des Sehens würdig zu sein, ist tragende Idee einer Kirche. Kirchen sind die sichtbare Umhüllung einer unsichtbaren Welt. Ihre Herrlichkeit wird seit Urzeiten nur erahnt. Kirchen sind das Abbild des Himmels den Menschen vor Augen gestellt, sie sind irdische Raumhülle für Gott, dem sie würdiges Haus sein wollen in ihrer Mächtigkeit, in ihrer Pracht. Kirchen sollen Sehenswürdigkeiten sein, sind es nicht erst geworden durch ihr Alter.
Kaum ein Baustil hat die Würde des Anblicks jener unsichtbaren göttlichen Welt virtuoser verwirklicht als die Gotik, diese mittelalterliche Baukunst, die Kirchen von ungeahnter Herrlichkeit entstehen ließ. In der Großartigkeit der vertikalen Linien und in der Weiträumigkeit umhüllten Raums hat die gotische Kathedrale die Dimension einer zukünftigen Himmelswelt. Abglanz der Welt Gottes ist sie, Vorschein und glaubende Anwesenheit der Welt, die noch nicht ist, aber kommen wird. Die gotische Kathedrale ist das himmlische Jerusalem, das vom Himmel herab schwebt am jüngsten Tag, als neuer wohliger Lebensraum für die Menschen, eine Welt ohne Kümmernisse, ohne Leid, Krankheit, ohne Angst, ohne Tod. Wer in diese Kirchen geht, taucht ein in Visionen, in ein Meer aus schummrigen Farben. Licht fassten die Menschen des Mittelalters als eine Erscheinungsform Gottes auf. Den gläsernen Bildern schrieb man die Kraft zu, die Menschen zu erleuchten und sie vom Bösen abzuhalten. Ja, so war das damals. Die Welt – ein symbolisches Universum. Alles hatte seine tiefere Bedeutung, war Symbol, nicht Zeichen.
Den Übergang von der Außenwelt ins Kircheninnere machten die Baumeister des Mittelalters erfahrbar als Durchquerung von Raumeinheiten: Atrium, Vorkirche, Westwerk, Galiläa, Türme, Portale – sie alle stellen einen Durchgangsraum für die Lebenden als auch für die Toten dar in eine ganz andere Welt. Diese Vorräume des Übergangs wurden den Engeln geweiht, um hier den Beginn der himmlischen Sphäre anzuzeigen. Die Engel sind die Wächter zum Paradies. Wen sie durchlassen, geht hinein in die Welt göttlichen Friedens. Das Farbenspiel der Lichter im mystischen Halbdunkel lässt die ewige Sonne Christus erahnen, die Arithmetik der Zahlen und Proportionen machen den Sieg der Ordnung über das Chaos spürbar. Die gigantische Weite und Höhe des Raumes konfrontieren mit der eigenen Nichtigkeit und mit dem Gedanken der Ewigkeit.
Bänke gab es nicht. Die gotischen Kathedralen sollen Wandelhallen sein. In ihnen war Liturgie Bewegung, Gottesdienst von sinnlicher Lebendigkeit, Schauen und Staunen, Schmecken und Riechen, Fühlen und Hören. In diesen sakralen Hüllen aus Stein und Glas war Gottesdienst gedacht als ganzheitliche Glaubenserfahrung, als ehrfürchtiger Schauer, denn Gott der Allmächtige durchweht dieses Haus, und als tiefe Geborgenheit, denn Gott der Barmherzige, schließt hier in seine Arme.
Alles hat seine Zeit. Im Urlaub gehen viele Menschen in die Kirche, was viele sonst nicht tun. Sie verlassen die lärmende Außenwelt europäischer Innenstädte und schreiten hinein in die Innenwelt der gotischen Kathedralen. Ruhe. Bergendes Halbdunkel. Keine Hektik. Gedankenversunkenes Wandeln durch die weiten Hallen. Farbenspiel der Fenster. Jeder ist für sich. Andächtiges Sehen und Staunen.
Kaum einer wird die Gedanken kennen, die hier in Stein gehauen worden sind vor Hunderten von Jahren, die Vorräume im Westwerk als Übergang in die himmlische Sphäre, von Engeln bewacht, die Weiträumigkeit als ewige Welt zukünftigen Glücks, das Farbenspiel der Fenster als vorsichtige Offenbarung Gottes, die Arithmetik der Zahlen und harmonischen Proportionen als Sieg der Ordnung über das Chaos. Kaum einer wird das genau wissen in unserer Zeit. Aber kaum einer, der hier nicht das Besondere spürt als Erhabenheit, Ewigkeit, Unendlichkeit, als Zauber einer anderen Welt. Diese alten sakralen Raumhüllen aus Stein und Glas sind Erlebniswelten für religiöses Empfinden, sind Resonanzboden, der die leisen Schwingungen des Glaubens zum Klingen bringt, dieses seltsame Gefühl, da könnte es noch mehr geben. Diese Kirchen predigen, aber sie predigen nicht an. Sie lassen Raum zum Wandeln durch die Welt der eigenen Religiosität. Sie flüstern aus allen Steinen von einer anderen Welt, finden aber muss jeder selbst. Sie erzählen von der verborgenen Anwesenheit Gottes, offenbaren ihn aber nicht. Dieses zurücknehmende Sprechen von Gott lässt Raum für intensive Suche nach ihm, bringt den Gottesgedanken ganz unaufdringlich zum Schwingen.
Vielleicht gehen deswegen die Leute im Urlaub in die Kirche, wandeln durch die großen Gotteshäuser der europäischen Städte, weil sie hier weiten Raum zum Suchen haben. Diese Kirchen entmündigen nicht, sondern geben Recht auf eigene Gedanken. Nur was man selbst gefunden hat, selbst als Wahrheit erkannt hat, bringt wirklich weiter, dringt wirklich weiter bis ins Herz. Gott ist groß. Wer könnte schon vorschreiben, wie er ist. Wer lässt sich heute noch vorschreiben, wie er ist. Menschen wollen respektiert und geachtet werden in ihrem Glauben, nicht kleingepredigt zu einem Häufchen Sünder.
Das scheint mir nicht ohne Reiz zu sein, von Gott zu erzählen in Achtung und Respekt vor dem Glauben und Unglauben des anderen. Nicht zu schnell wissen, was gut für ihn ist, nicht zu schnell ihn bedrängen mit richtig und falsch. Gott nicht zu schnell eindeutig sagen, sondern ihn selbst sagen lassen in konjunktivistischer Vorsicht. Denn der Herr, so wird erzählt in der Bibel, im 1.Buch der Könige Kapitel 19, geht nicht vorüber im Sturm einer großen Rede, die Berge zerreißt und Felsen zerbricht, nicht in bebender Sprache und feuriger Eindeutigkeit (1.Könige 19). Er geht vorüber in einem stillen sanften Sausen, oder noch ehrfürchtiger gesagt in der Übersetzung von Martin Buber: in der Stimme eines feinen Schweigens. Hörst Du ihn? Er ist kaum zu hören. Er ist ein Vorübergehender, ein Entschwindender, bleibt nicht stehen, erstarrt nicht zu einem Bild, nicht zu einer Aussage.
So müsste man über Gott reden können, predigen können, dass er Raum hat vorüberzugehen in der Stimme eines feinen Schweigens. Ihn nicht eindeutig sagen, sondern ihn eindeutig sagen lassen in die Herzen der Menschen und dann achten und wertschätzen, was sie gehört haben. Von Gott erzählen ist heute mehr Zuhören als Sprechen. Der Verzicht auf die Eindeutigkeit Gottes könnte eine Stärke von Kirche sein in der modernen oder postmodernen Welt. Denn mit dem Verzicht auf die Eindeutigkeit Gottes versetzt sich Kirche in die Situation der Machtlosigkeit, der Schwachheit. Machtlosigkeit und Schwachheit aber sind der tragende Grund ihrer Verkündigung und ihre ganz starke Verheißung. In Machtlosigkeit und Schwachheit wird das Wort Gottes so zu hören sein, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, hat D. Bonhoeffer einmal gesagt.
Es ist nicht wahr, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Sie gehen, wenn Kirche nicht anpredigt, nicht vorschreibt, nicht einengt, sondern Raum zum Wandeln ist, Erlebniswelt für das eigene religiöse Empfinden, Resonanzboden für die leisen Schwingungen des Glaubens, die so mancher in sich spürt. Es ist ja nicht wahr, dass die Kirchen im Urlaub nur besichtigt werden, missbraucht werden als touristische Attraktion. Würde man von oben herabblicken aus den schwindelnden Höhen der Gewölbe und diese bunte Schar von Menschen sehen, die der Urlaub in die Kirche führt, Junge und Alte, Fromme und Unfromme, Kirchenmitglieder und Ausgetretene, Gläubige und Ungläubige, Eltern mit ihren Kindern, Glückliche und Unglückliche, Hand in Hand, Rollstuhlfahrer, ein Mädchen mit knallroten Haaren, Menschen aus aller Welt, würde man von oben ihr andächtiges Wandeln sehen, wie sie staunen, wie Glaube sich in ihnen regt, ein Schauer sie durchfährt, wie das Lichtspiel der Fenster sie verzaubert und sie schön macht, wie sie die Stille genießen, die Augen schließen und sich erholen; wer das alles von oben sehen würde aus den schwindelnden Höhen der Himmelsgewölbe, für den ist das Gottesdienst in seiner schönsten Form. Gott, so sagt man, sieht ja alles von oben.
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