Die Mutter holt ein Taschentuch hervor, spuckt darauf und wischt der neunjährigen Tochter den schokoladenverschmierten Mund damit ab. Dem Kind ist das sichtlich unangenehm. Es windet sich. Kann ich verstehen. Ist auch meine Erinnerung. Mag sein, als Dreijähriger hat mir das nichts ausgemacht. Mit zunehmendem Alter wurde es mir unangenehm, wischte meine Mutter mir so den Mund ab. Wurde mir zu nah. Verletzung meiner Intimsphäre. Mütter merken nicht immer, wenn es Zeit ist, ihrem Kind gegenüber auch körperlich auf Abstand zu gehen.
Einen anderen Menschen mit dem eigenen Speichel zu berühren, das ist sehr körperlich, sehr intim. Mehr Nähe geht kaum. So nah kommen sich später nur die auserwählt Liebenden, wenn sie sich küssen, ineinander fließen und sich vermischen zu einer Person. Das schafft Bindung, die bleibt, auch wenn man sich trennt. Es war zu nahe.
Eine Szene aus Bibel: Zwei Männer stehen sich gegenüber. Sie sind einander völlig fremd. Der Größere hebt langsam seine Hände und steckt die Finger in die Ohren des anderen. So stehen sie da – minutenlang, schweigend. Dann löst der Größere seine Finger wieder aus den Ohren, neigt den Kopf leicht nach vorne und führt die rechte Hand zum eigenen Mund, öffnet ihn und lässt Speichel in milchigen Blasen auf Zeigefinger und Mittelfinger tropfen. Er hebt den Kopf, sieht dem anderen in die Augen. „Öffne deinen Mund!” Der öffnet seinen Mund. Der Größere nimmt seine Finger, die mit Speichel, steckt sie in den Mund des anderen, dreht sie und reibt den Speichel mit langsamen Bewegungen auf die Zunge. Ein Hund bellt. Der Größere hebt seinen Kopf und neigt ihn zum Himmel. Tief atmet er in den Bauch hinein, als würde er den Himmel einatmen wollen, das Licht, die Klarheit, einmal, zweimal, dreimal. Als er das vierte Mal ausatmet, ruft er: „Hefata! Hefata!“ Es ist still.
Vorsichtig löst er die Finger von der Zunge des anderen und nimmt sie aus dem Mund. Dem läuft Speichel aus dem Mundwinkel, sein eigener und der des Größeren. „Erzähl niemanden davon!“, gebietet der ihm eindringlich und schickt ihn weg. Der andere hält sich nicht an das Verbot und erzählt allen davon, schreit es heraus vor Glück. Warum auch nicht. Er war taub, jetzt kann er wieder hören. Er hatte eine schwere Zunge, jetzt er kann wieder richtig sprechen.
Vielleicht kennst Du diese Szene. Sie ist eine Geschichte, die über Jesus erzähl wird. Er soll ein Heiler gewesen sein, einer der Kranke gesund gemacht hat. Die Art und Weise, wie er das machte, wird heute als Wunder bezeichnet. Als Wunder bezeichnen wir jene Ereignisse, die wir nicht erklären können, weil sie angeblich allen Naturgesetzen und Erkenntnissen der Wissenschaft widerborstig sind und nicht in unser Weltbild passen wollen. Weil sie so unpassend sind, sagen einige, es gäbe gar keine Wunder. Wer davon erzählt, erzählt Märchen.
Mich wundert immer wieder die Kühnheit, mit der wir uns anmaßen nur das für wahr zu halten, was die moderne Wissenschaft angeblich bewiesen hat. Was wissen wir schon vom Leben wissenschaftlich? Nur sehr wenig, sehr wenig. Was wir nicht wissen ist viel größer. Und das wenige, was wir wissen, ist vorläufig. „Wunder geschehen nicht im Widerspruch zur Natur, wohl aber zu dem, was wir von der Natur wissen“, hat der große Philosoph und Theologe Augustinus gesagt. Diese Demut macht einen großen Wissenschaftler. Die anderen sind klein, denn sie bewegen sich in einem sehr kleinen Lebensraum. Eine Entscheidung, die ich achte. Nur fürchte ich, es gehen viele Möglichkeiten verloren. Deshalb habe ich mich anders entschieden. Ich möchte meine Füße auf weiten Raum stellen, jenseits der Grenzen unseres Weltbildes nach Möglichkeiten forschen. Deswegen mag ich die Wundergeschichten sehr, die von Jesus erzählt werden. Sie machen den Horizont weit und wenn ich sie lese, begreife ich zaghaft, dass ich Leben verstehe, wenn ich es als Geheimnis begreife.
Geheimnisvoll ist die Geschichte, in der Jesus einem Mann die Finger in die Ohren steckt, ihm seinen Speichel auf die Zunge schmiert, zum Himmel eine magische Formel ruft „Hefata“ und der Mann kann wieder hören und sprechen. Die Geschichte beginnt wie andere Heilungsgeschichten auch:
„Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.“
Unsere Sprache wird durch das Hören geformt. Hören wir nicht, wird das Sprechen schwer. So wichtig ist das Hören. Es fällt auf: Selten sucht Jesus die Kranken auf. Fast immer müssen sie ihn suchen, hinter ihm herlaufen, zuweilen betteln und bitten. Jesus übernimmt keine Verantwortung für die Menschen. Sie müssen selbst ins Handeln kommen. Wenn sie nicht kommen, bleiben sie krank.
Selten bleibt er länger an einem Ort. Er hat keine Praxis, in der er behandelt. Er heilt auf dem Weg, im Vorübergehen, in der Begegnung am Rande. Geld verdient er damit nicht. Er verbietet, über seine Arbeit zu sprechen. Für jeden Arzt, für jede Ärztin wären das ein Karrierekiller. Für Jesus scheint es die Lebenshaltung zu sein, in der er weiten Raum durchschreitet, eine Lebenshaltung, die ihm ganz eigene Wege des Heilens erschließt.
Er wird gebeten, dem Kranken die Hand aufzulegen. Das war eine bekannte Therapie, eine erwartete. Jesus entspricht den Erwartungen nicht, nicht einer Schulmeinung. Er lässt sich nicht sagen, was er zu tun hat. Er kennt kein medizinisches Programm für alle. Er kennt keine Therapien für die Masse. Mag sein, dass sich die Symptome ähneln und sich Muster abzeichnen, aber das, was ein Mensch zu seiner Heilung braucht, ist ganz individuell und muss ganz auf ihn abgestimmt sein. Die Geschichte sagt es so:
Und Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite.
Heilung, so wie Jesus sie lebt auf weitem Raum, ist eine Begegnung zwischen zwei einzigartigen Menschen:
Und er legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf!
Es gibt kein Vorgespräch, keine Anamnese, kein Suchen nach Gründen für die Erkrankung, keine Analyse des Unterbewusstseins, kein Benennen von Schuld. All das scheint nicht wichtig. Warum nicht? Eine wirkliche Heilung setzt doch voraus die Ursachen zu kennen. Jesus fragt nicht danach. Vielleicht weiß er sie, einfach so. Vielleicht weiß er auch nichts, vielleicht will er nichts wissen, will ganz leer bleiben, ohne Urteil über den Menschen. Ob wir die wirklichen Gründe für eine Erkrankung der Seele oder des Körpers finden können, wage ich zu bezweifeln. Sie sind zu vermengt. Was wir am Ende finden, sind weniger objektive Ursachen als vielmehr subjektive Urteile, mit denen Macht ausgeübt wird über einen Menschen. Heilung, so wie Jesus sie lebt, braucht einen weiten leeren Raum. Nichts wissen, keine Urteile über einen Menschen bilden, kein Hierarchiegefälle zwischen Therapeut und Patient. Leer sein, ganz leer sein. Bedingungslos einem Menschen begegnen:
„Und er legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel“.
Einem Menschen noch näher zu kommen, ist kaum möglich. Was er hier tut, ist übergriffig, ist Verletzung der Intimsphäre, respektlos, ekelhaft. Es ist aber auch Hingabe, Selbsthingabe für den Moment. Die Art und Weise, wie Jesus heilt, kennt keine Vorsicht, kennt nicht diese Distanz zwischen Arzt und Patient, die angeblich notwendig ist, um sich als Therapeut zu schützen. Für den Moment der Begegnung gibt sich Jesus hin, er wird körperlich, er berührt, legt seine Finger in die Ohren des anderen, als wollte er in den Menschen hinein. Er gibt seinen Speichel dem anderen in den Mund, wie bei einem Kuss. Heilung ist hier ein Liebesakt, eine Verschmelzung zweier Körper zu einem. Und der andere lässt es zu, gibt sich auch hin, weil die reine Liebe keine Angst weckt. Sie ist unwiderstehlich, unvorsichtig.
Wer nichts weiß über den anderen Menschen, wer keine Urteile bildet, der muss sich nicht schützen in der therapeutischen Arbeit. Unser Wissen, was für den anderen gut sein könnte, unsere Urteile und Wertungen sind es, die uns Kraft kosten. Das gilt auch in der einfachen Beziehung zwischen zwei Menschen. Und noch etwas anderes:
„Jesus sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf!“
Ohne Himmel geht es nicht, jedenfalls nicht bei Jesus. Er braucht den Himmel für seine Art zu heilen, denn er selbst ist leer, muss leer sein, er selbst weiß nicht, darf nicht wissen, er hat keine Macht, darf keine Macht haben, er hat keinen Willen, SEIN Wille geschehe, der Wille seines Vaters im Himmel. Er ist Kind, Sohn, Diener, Mittler. Er tut gar nichts. Der Himmel tut alles:
„Hefata! Tut dich auf!“
Das klingt wie eine magische Formel. Einige sagen, damit spricht er den Kranken an. Das glaube ich nicht, denn der ist ja taub. Er bittet den Himmel sich zu öffnen, damit die Kräfte, die neues Leben schaffen, in den kranken Menschen fließen. „Hefata“, das ist die Bitte: „Dein Reich komme. . . „ Das Seufzen, das tiefe Atmen ist nicht Ausdruck einer Schwere, die Jesus beim Heilen überfällt, sondern Hinweis auf die Leichtigkeit, auf die Seligkeit, auf die Liebe, die sein Körper und seine Seele bei dieser Art von Heilung empfinden. Wer so heilt zwischen Himmel und Erde, der heilt sich selbst. Heilen ist einfach und schön, wie alles, was vom Himmel kommt:
„Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig.“
Wen wundert’s. Niemanden, der auf weitem Raum steht.
“Und Jesus gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.”
Einige sagen, die Begeisterung der Menschen, die im letzten Satz vermerkt ist, bezieht sich auf Jesus. Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Das glaube ich nicht. Damit ist nicht Jesus gemeint. Es ist ein Satz aus dem Alten Testament und auf Gott bezogen. Es wird so sein, wie an anderer Stelle im Markus-Evangelium auch. Die Menschen loben Gott, nicht Jesus, für das, was sie gesehen haben. Warum auch sollten sie Jesus zu Gott machen? Er war aber einer, der sich auf weitem Raum bewegte. Das ist göttliches Leben. Solche Menschen gibt es, auch heute noch. Jesus lebt.
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