Was passiert, wenn ein Mensch im Zustand vollkommener Wachheit aufhört zu denken? Seit fast 30 Jahren beschäftige ich mich mit christlicher Theologie und habe viele religiöse und philosophische Fragestellungen bedacht. Diese Frage aber, aufgeworfen durch das Praxiswochenende „Zen – Einführung“, war überraschend neu für mich. Christliche Theologie in europäischer also westlicher Tradition heißt zu denken. Annäherung an Wissen geschieht über einen diskursiven Prozess des Nachsinnens. Im westlichen Verständnis ist die Fähigkeit des Menschen zu denken der bedeutende Weg zur Erschließung von Wirklichkeit. Hört ein Mensch zu denken auf, geht ihm Wirklichkeit verloren. Der Zen-Buddhismus setzt radikal dagegen: Hört ein Mensch zu denken auf, gewinnt er Wirklichkeit, und zwar die Wirklichkeit! Das ist der spirituelle Weg des Zen. Damit entzieht sich das Zen einer kritischen begrifflichen Betrachtungsweise, wie sie im Westen gepflegt wird. Das Zen kann nicht zum Forschungsobjekt gemacht werden, das Zen ist nicht „Etwas“, das zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden kann. Im Zen wird die westliche Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Das Zen ist keine Theorie, sondern eine lebendige Erfahrung.
Die Möglichkeit sich dem Zen zu nähern ist sich auf das Zen einzulassen, und das heißt, sich auf praktische Übungen einzulassen, die sich über mehr als tausend Jahre dabei bewährt haben sollen, einen Zustand des Nichtdenkens zu erzeugen. Das war die Empfehlung des spirituellen Leiters und Zen Meisters Alexander Poraj an die ca. 50 Teilnehmer ganz zu Anfang des Wochenendes: Lass Euch auf die Übungen ein und lasst Erfahrungen zu, die aus den Übungen fließen! Am Anfang des Wochenendes steht also keine Lehre, stehen keine Glaubenssätze, sondern die schlichte Praxis und der Wunsch sie zu probieren.
Die Übungen sind leicht: Stilles Sitzen, langsames Gehen, schnelles Gehen. Die Übungen sind schwer: Im Sitzen soll ich mich mit offenen Augen ganz auf mein Atmen konzentrieren. Mir aber schießen tausend Gedanken durch den Kopf, die mich hindern, mein Atmen wahrzunehmen. Beim langsamen Gehen soll jeder Schritt ganz bewusst gespürt werden. Je mehr ich das versuche, desto stärker wird der Gedankenfluss. Auch das schnelle Gehen kann das Denken nicht beruhigen. Ständig gleite ich ab in die Vergangenheit, in die Zukunft, in Vorstellungen, wie ich den Übungen gemäß zu sein habe. Ich beobachte die anderen, mutmaße, warum sie hier sind, was sie beruflich machen, und verliere mich dabei.
So lautet die erste Erfahrung: Ich denke ununterbrochen und bin dem Strom meiner Gedanken scheinbar machtlos ausgeliefert. Warum denke ich so viel? Welchen Sinn macht es sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, die nicht mehr ist und an der ich nichts ändern kann? Welchen Sinn macht es, sich mit Plänen für die Zukunft zu beschäftigen, die noch nicht ist und die sich nicht selten meinen Vorstellungen entzieht? Warum entwerfe ich ständig Ansprüche, Ideen, wie ich zu sein habe, wie ich gerne sein möchte? Warum bin ich den anderen um mich herum scheinbar näher als mir selbst? Warum ist es so schwer mich auf mein Atmen zu konzentrieren, auf die pure Gegenwart meines Lebens? Ich komme aus dem Denken nicht heraus.
Um 5.45 Uhr in der Frühe beginnt der Tag: Schnelles Gehen im Kreis draußen im Schnee. Danach Sitzen im Meditationsraum, langsames Gehen, Frühstück, Hausarbeit , Treffen im Übungsraum, schnelles Gehen, Sitzen, usw. Alles geschieht im Schweigen. Dem Denken sollen die Reize entzogen werden. Ich soll ganz bei der Sache sein, die im Augenblick ist. Geredet wird nur wenn Teishō ist, eine Darlegung und Unterweisung für die Übenden durch den Meister. Poraj spricht kurz und klar: Es braucht viele Jahre der Übung, bis es gelingt, den Gedankenstrom zu unterbrechen. Der westliche Bildungs- und Wirklichkeitsbegriff gründet auf dem Denken. Wer so einseitig gebildet wird, dem fällt es schwer den Weg des Zen zu gehen. Was wir an Wirklichkeit durch unser Denken erschließen, ist nicht die eigentliche Wirklichkeit, sondern verhüllt sie. Das Denken konstruiert die Vorstellung einer äußeren Wirklichkeit der Dinge und einer inneren Wirklichkeit, dem Ich. Wird das Denken unterbrochen, fällt der Schleier der Vorstellungen und der Mensch erwacht zur unverstellten Gegenwart. Das ist Zen, ganz in der Gegenwart zu sein, gedankenlos im Moment des Seins zu verweilen, in dem sich das gedachte Ich und Etwas auflösen. Die Gegenwart ist leer von Beziehungen, frei von Dingen, nach denen Verlangen entstehen könnte. Im Zen wird nichts erlangt. In der Wirklichkeit der Gegenwart ist alles da und die Gegenwart ist immer da im Gegensatz zur Vergangenheit und Zukunft, die im Moment nie sind.
Rückfragen aus dem Teilnehmerkreis machen deutlich, wie irritierend Zen für einen im Denken gebildeten Menschen ist: Ist das nicht ein Widerspruch, üben und doch nichts erreichen können? Zen ordnet sich nicht dem aristotelischen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch unter. Zen ist widersprüchlich. Zen ist nicht für jeden vernunftbegabten Mensch mit Notwendigkeit einsehbar. Zen ist keine geschlossene Lehre, keine Religion, kein Lebenskonzept. Zen ist nichts wofür man mit Überzeugungskraft werben könnte. Zen ist einfach Zen.
Die westliche aristotelische Tradition des Denkens war mir bisher so selbstverständlich, so absolut, so wahr, dass mir keine Möglichkeit in den Sinn kam die Welt auch anders sehen zu können. Durch die Begegnung mit der Zen-Tradition erscheint der aristotelische Weg nicht mehr als die Wahrheit sondern als eine Möglichkeit. Zen relativiert mein Weltbild, Zen verunsichert mich, Zen fasziniert mich aber auch. Es ist möglich, die Welt auch radikal anders zu sehen. Das eröffnet Freiheit.
Schon die erste Berührung im Kontaktstudium mit der buddhistischen Idee von der konditionalen Wechselbeziehung zwischen Objekt und dem Ich-Bewusstsein löste einen irritierenden Impuls bei mir aus: Das Objekt existiert nur, wenn es im Bewusstsein ist und das Bewusstsein existiert nur, wenn es ein Objekt gibt. Verschwindet es aus dem Bewusstsein, wird die Beziehung aufgehoben. Subjekt und Objekt verlöschen. Die Ich-Substanz, das Selbst, das im Hinduismus noch von Bedeutung ist, löst sich im Buddhismus auf. Es gibt kein bleibendes Ich, keine Selbstgewissheit. Das Prinzip der Aufklärung „Cogito ergo sum“ Ich denke, mithin bin ich – verflüchtig sich zu einer Illusion. Eine beunruhigende Frage drängt sich auf: Wenn mein Ich eine Illusion ist, wer bin ich dann? Ein Tropfen, der ins Meer fällt? Ist das Zen, ist es das, wohin mich die Übungen führen sollen? Und will ich das? Ist das die Realität, die absolute Gegenwart hinter dem Schleier meiner Gedanken? Wie kann ich sie wahrnehmen, erkennen, wenn mein Ich nur Schein ist?
Ob jemand im Geist des Zen erwacht ist, so Poraj, wird in der Beziehung von Meister zu Schüler, von Herz zu Herz bestätigt. Durch diese Bestätigung wird er zum Zen-Lehrer oder auch Zen-Meister. Die Aussage ist verwirrend und widersprüchlich wie einiges im Zen. Bestätigt sich das Zen nicht selbst im Herzen eines Menschen? Und was ist das für eine Beziehung zwischen den Herzen, die doch zwei Ich voraussetzt, sonst wäre eine Beziehung nicht möglich? Zen, so scheint mir, hat man dann verstanden, wenn man es als Geheimnis versteht und trotz der Widersprüche einfach den Weg des Zen geht. Das wäre in der denkerischen Tradition des Christentums kaum möglich, da die Beseitigung des Widerspruchs ein Voranschreiten erst möglich macht.
Leider war im Teishō keine Gelegenheit zu fragen, welchen Sinn das Denken macht, wenn es die Wirklichkeit durch Vorstellungen doch nur verschleiert und deshalb hinter sich gelassen werden soll durch Übungen. Schwierig wird eine Antwort, ruf man sich in Erinnerung, dass im Zen nichts erreicht wird, da alles schon da ist, also auch die Überwindung des Denkens. Von außen betrachtet hat der Zen-Buddhismus hier ein typisches Motiv von Religion, nämlich das die Welt, wie sie erscheint, nicht wirklich ist, nicht die wahre Welt ist, sondern durch einen Weg der Erkenntnis und Erfahrung bewältigt und hinter sich gelassen werden muss. Eine Abwertung des Denkens scheint mir damit aber nicht verbunden zu sein. Poraj redet nicht gedankenlos und auch hinter dem Seminarhaus Benediktushof steht eine gedankliche Leistung. Möglicherweise denkt ein Mensch anders, wenn er die Erfahrung des Zen macht. Wenn er denkt, dann denkt er. Er achtet auf sein Denken, dass es gegenwärtig ist, auf den Augenblick. Aber was ist das, gegenwärtig denken?
Auf meine Frage, ob nicht der Tod ein Zustand vollkommener Gegenwart ist, da mit dem Sterben das Denken erlischt, antwortet Poraj kurz, dass er über den Tod nichts sagen kann. Diese Aussage überrascht, denn die Deutung des Todes ist ein konstituierendes Element von Religion. Zen entzieht sich dem Religionsbegriff. Andererseits scheint mir die Aussage verblüffend ehrlich zu sein. Wer kann schon etwas über den Tod sagen ohne es Spekulation nennen zu müssen?
Und welchen Gewinn hat er, Poraj der Zen-Meister davon, sich auf den Weg des Zen einzulassen? Empfindet er mehr Freude, mehr Zuversicht, mehr Vertrauen? Es muss doch einen Mehrwert für die Bewältigung des Lebens geben, für den es sich lohnt, den Weg zu gehen. Reduzierung der Angst, mehr antwortet er nicht auf meine Frage. Eine bemerkenswerte Antwort. Über den Tod kann er nichts sagen, aber er könnte einen erleichternden Umgang mit ihm durch Zen gefunden haben. Es verwundert, dass er die Antwort nicht positiv formuliert.
Mir fällt auf, wie im Laufe des Wochenendes meine Lust Fragen zu stellen weniger wird. Ich nehme die Übungen, wie sie sind und nehme, was passiert. Ist das schon Zen, das Leben ganz einfach zu nehmen wie es im Moment ist, ohne Antworten, Urteile, Wertungen und Vorstellungen, die aus dem Denken fließen? Ist das Leben so einfach wie die Übungen?
Es bleiben Fragen zurück. Aber diese Fragen scheinen mir milder geworden zu sein. Sie drängen nicht mehr so stark nach Antworten. Es sind Fragen, mehr nicht. Fragen sind nur eine Möglichkeit sich dem Leben zu nähern. Leben vollzieht sich auch ohne Antworten.
Am Ende des Seminars werden wir aufgefordert, unseren Meditationsplatz wieder fein herzurichten, die überflüssigen Dinge an ihre Orte zu bringen und die Sitzdecke mit der Hand gerade zu streichen, als wollte man mit der äußeren Ordnung die inneren Widersprüche etwas glätten.
Auf dem Weg nach Hause beschleicht mich ein ungewohntes Gefühl: Das kurze Wochenende am Benediktushof kommt mir sehr seltsam lang vor, als hätte sich die Zeit gestreckt und mein Lebensstrom verlangsamt beim stillen Sitzen, langsamen Gehen, schnellen Gehen, beim Tischdecken und Schweigen. War das schon ein Hauch von Zen?
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