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Leichtsinnige Ansichten

Auf dieser Seite finden Sie Ansichten zum Leben. Davon gibt es unendlich viele, weil das Leben unendlich viel ist. Es bietet eine verwirrende Vielfalt an Meinungen, Deutungen und Vorstellungen. Alles ganz natürlich.

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Kirchgang

Es ist ja nicht wahr, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Sie gehen in die Kirche, in Scharen, Junge und Alte, Fromme und Unfromme  

– andächtige Stille in den schummrigen Hallen -, 

Kirchenmitglieder und Ausgetretene, Gläubige und Ungläubige 

– Kerzen brennen in den Nischen der Seitenschiffe –  

Eltern mit ihren Kindern, Glückliche und Unglückliche  

– Sonnenlicht flutet durch die Fenster und bricht sich zu einem Fächer aus Farben –, 

Liebespaare Hand in Hand, Rollstuhlfahrer, ein Mädchen mit knallgrünen Haaren  

– Säulen, die in den Himmel schießen und hoch oben aufblühen zu einem Himmelsgewölbe -,  

Englisch ist zu hören, Spanisch, Japanisch, sie kommen von überall her. 

Es ist nicht wahr, dass die Leute nicht in die Kirche gehen. Sie gehen in die Kirche. Alles hat seine Zeit. Die Zeit des Kirchgangs ist der Urlaub. Im Urlaub gehen viele in die Kirche, was viele in der übrigen Zeit des Jahres nicht tun. Mag daran liegen, dass man Zeit hat, viel Zeit. Müßiggang setzt Flausen in den Kopf: Warum nicht mal in die Kirche gehen, wenn diese Antiquitäten schon überall herumstehen. Im Urlaub ist die Hemmschwelle für einen Kirchenbesuch erstaunlich niedrig. Könnte daran liegen, dass sich niemand rechtfertigen muss, wenn er im Urlaub in die Kirche geht. Ganz anders Zuhause. Wenn da einer in die Kirche geht, der sonst nie geht, wundern sich die Leute: Der ist doch noch gar nicht so alt. Ist er fromm geworden, ist er etwa gläubig geworden, hat er Probleme? Im Urlaub ist der Kirchgang völlig harmlos. Niemand findet es seltsam. Ein Imageschaden ist nicht zu befürchten. Alles hat seine Zeit. Der Urlaub ist die Zeit des völlig ungefährlichen Kirchgangs. 

Die meisten, die im Urlaub in die Kirche gehen, gehen nicht zum Gottesdienst in die Kirche, sondern um sie zu besichtigen. Kirchen sind Sehenswürdigkeiten. So mancher missbilligt das und meint, es wäre ein Missbrauch von Gotteshäusern als touristische Attraktion. Weit gefehlt. Denn des Sehens würdig zu sein, ist tragende Idee einer Kirche. Kirchen sind die sichtbare Umhüllung einer unsichtbaren Welt. Ihre Herrlichkeit wird seit Urzeiten nur erahnt. Kirchen sind das Abbild des Himmels den Menschen vor Augen gestellt, sie sind irdische Raumhülle für Gott, dem sie würdiges Haus sein wollen in ihrer Mächtigkeit, in ihrer Pracht. Kirchen sollen Sehenswürdigkeiten sein, sind es nicht erst geworden durch ihr Alter. 

Kaum ein Baustil hat die Würde des Anblicks jener unsichtbaren göttlichen Welt virtuoser verwirklicht als die Gotik, diese mittelalterliche Baukunst, die Kirchen von ungeahnter Herrlichkeit entstehen ließ. In der Großartigkeit der vertikalen Linien und in der Weiträumigkeit  umhüllten Raums hat die gotische Kathedrale die Dimension einer zukünftigen Himmelswelt. Abglanz der Welt Gottes ist sie, Vorschein und glaubende Anwesenheit der Welt, die noch nicht ist, aber kommen wird. Die gotische Kathedrale ist das himmlische Jerusalem, das vom Himmel herab schwebt am jüngsten Tag, als neuer glücklicher Lebensraum für die Menschen, eine Welt ohne Kümmernisse, ohne Leid, Krankheit, ohne Angst, ohne Tod. Wer in diese Kirchen geht, taucht ein in Visionen, in ein Meer aus schummrigen Farben. Licht fassten die Menschen des Mittelalters als eine Erscheinungsform Gottes auf. Den gläsernen Bildern schrieb man die Kraft zu, die Menschen zu erleuchten und sie vom Bösen abzuhalten. Ja, so war das damals. Die Welt – ein symbolisches Universum. Alles hatte seine tiefere Bedeutung, war Symbol, nicht Zeichen. 

Den Übergang von der Außenwelt ins Kircheninnere machten die Baumeister des Mittelalters erfahrbar als Durchquerung von Raumeinheiten: Atrium, Vorkirche, Westwerk, Galiläa, Türme, Portale – sie alle stellen einen Durchgangsraum für die Lebenden als auch für die Toten dar in eine ganz andere Welt. Diese Vorräume des Übergangs wurden den Engel geweiht, um hier den Beginn der himmlischen Sphäre anzuzeigen. Die Engel sind die Wächter zum Paradies. Wen sie durchlassen, geht hinein in die Welt göttlichen Friedens. Das Farbenspiel der Lichter im mystischen Halbdunkel lässt die ewige Sonne Christus erahnen, die Arithmetik der Zahlen und Proportionen machen den Sieg der Ordnung über das Chaos spürbar. Die gigantische Weite und Höhe des Raumes konfrontieren mit der eigenen Nichtigkeit und mit dem Gedanken der Ewigkeit. 

Bänke gab es nicht. Die gotischen Kathedralen sollen Wandelhallen sein. In ihnen war Liturgie Bewegung, Gottesdienst von sinnlicher Lebendigkeit, Schauen und Staunen, Schmecken und Riechen, Fühlen und Hören. In diesen sakralen Hüllen aus Stein und Glas war Gottesdienst gedacht als ganzheitliche Glaubenserfahrung, als ehrfürchtiger Schauer, denn Gott der Allmächtige durchweht dieses Haus, und als tiefe Geborgenheit, denn Gott der Barmherzige, schließt hier in seine Arme.

Alles hat seine Zeit. Im Urlaub gehen viele Menschen in die Kirche, was viele sonst nicht tun. Sie verlassen die lärmende Außenwelt europäischer Innenstädte und schreiten hinein in die Innenwelt der gotischen Kathedralen. Ruhe. Bergendes Halbdunkel. Keine Hektik. Gedankenversunkenes Wandeln durch die weiten Hallen. Farbenspiel der Fenster. Jeder ist für sich. Andächtiges Sehen und Staunen. 

Kaum einer wird die Gedanken kennen, die hier in Stein gehauen worden sind vor Hunderten von Jahren, die Vorräume im Westwerk als Übergang in die himmlische Sphäre, von Engeln bewacht, die Weiträumigkeit als ewige Welt zukünftigen Glücks, das Farbenspiel der Fenster als vorsichtige Offenbarung Gottes, die Arithmetik der Zahlen und harmonischen Proportionen als Sieg der Ordnung über das Chaos. Kaum einer wird das genau wissen in unserer Zeit. Aber kaum einer, der hier nicht das Besondere spürt als Erhabenheit, Ewigkeit, Unendlichkeit, als Zauber einer anderen Welt. Diese alten sakralen Raumhüllen aus Stein und Glas sind Erlebniswelten für religiöses Empfinden, sind Resonanzboden, der die leisen Schwingungen des Glaubens zum Klingen bringt, dieses seltsame Gefühl, da könnte es noch mehr geben. Diese Kirchen predigen, aber sie predigen nicht an. Sie lassen Raum zum Wandeln durch die Welt der eigenen Religiosität. Sie flüstern aus allen Steinen von einer anderen Welt, finden aber muss jeder selbst. Sie erzählen von der verborgenen Anwesenheit Gottes, offenbaren ihn aber nicht. Dieses zurücknehmende Sprechen von Gott läßt Raum für intensive Suche nach ihm, bringt den Gottesgedanken ganz unaufdringlich zum Schwingen. Vielleicht gehen deswegen die Leuten im Urlaub in die Kirche, wandeln durch die großen Gotteshäuser der europäischen Städte, weil sie hier weiten Raum zum Suchen haben. Diese Kirchen entmündigen nicht, sondern  geben Recht auf eigene Gedanken. Nur was man selbst gefunden hat, selbst als Wahrheit erkannt hat, bringt wirklich weiter, dringt wirklich weiter bis ins Herz. Gott ist groß. Wer könnte schon vorschreiben, wie er ist. Wer lässt sich heute noch vorschreiben, wie er ist. Menschen wollen respektiert und geachtet werden in ihrem Glauben, nicht kleingepredigt zu einem Häufchen Sünder. 

Das scheint mir nicht ohne Reiz zu sein, von Gott zu erzählen in Achtung und Respekt vor dem Glauben und Unglauben des anderen. Nicht zu schnell wissen, was gut für ihn ist, nicht zu schnell ihn bedrängen mit richtig und falsch. Gott nicht zu schnell eindeutig sagen, sondern ihn selbst sagen lassen in konjunktivistischer Vorsicht. Denn der Herr geht nicht vorüber im Sturm einer großen Rede, die Berge zerreißt und Felsen zerbricht, nicht in bebender Sprache und feuriger Eindeutigkeit. Er geht vorüber in einem stillen sanften Sausen, oder noch ehrfürchtiger gesagt in der Übersetzung von Martin Buber: In der Stimme eines feinen Schweigens. Hören sie ihn? Er ist kaum zu hören. Er ist ein Vorübergehender, bleibt nicht stehen, erstarrt nicht zu einem Bild, nicht zu einer Aussage. Er ist ein Vorübergehender, ein Entschwindender. So müsste man über Gott reden können, predigen können, dass er Raum hat vorüberzugehen in der Stimme eines feinen Schweigens.

Ihn nicht eindeutig sagen, sondern ihn eindeutig sagen lassen in die Herzen der Menschen, und dann achten und wertschätzen, was sie gehört haben. Von Gott erzählen ist heute mehr Zuhören als Sprechen. Der Verzicht auf die Eindeutigkeit Gottes scheint mir die missionarische Stärke von Kirche zu sein in der modernen oder postmodernen Welt. Denn mit dem Verzicht auf die Eindeutigkeit Gottes versetzt sich Kirche in die Situation der Machtlosigkeit, der Schwachheit. Machtlosigkeit und Schwachheit aber sind der tragende Grund ihrer Verkündigung und ihre ganz starke Verheißung. In Machtlosigkeit und Schwachheit wird das Wort Gottes so zu hören sein, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu.

Es ist ja nicht wahr, dass die Leute nicht mehr in die Kirche gehen. Sie gehen, wenn Kirche nicht anpredigt, nicht vorschreibt, nicht einengt, sondern Raum zum Wandeln ist, Erlebniswelt für das eigene religiöse Empfinden, Resonanzboden für die leisen Schwingungen des Glaubens, die jeder in sich spürt. Es ist ja nicht wahr, dass die Kirchen im Urlaub nur besichtigt werden, missbraucht werden als touristische Attraktion. Würde man von oben herabblicken aus den schwindelnden Höhen der Gewölbe und diese bunte Schar von Menschen sehen, die der Urlaub in die Kirche führt, Junge und Alte, Fromme und Unfromme, Kirchenmitglieder und Ausgetretene, Gläubige und Ungläubige, Eltern mit ihren Kindern, Glückliche und Unglückliche,  Hand in Hand, Rollstuhlfahrer, ein Mädchen mit knallroten Haaren, Menschen aus aller Welt, würde man von oben ihr andächtiges Wandeln sehen, wie sie staunen, wie Glaube sich in ihnen regt, ein Schauer sie durchfährt, wie das Lichtspiel der Fenster sie verzaubert und sie schön macht, wie sie die Stille genießen, die Augen schließen und sich erholen;  wer das alles von oben sehen würde aus den schwindelnden Höhen der Himmelsgewölbe, für den ist das Gottesdienst in seiner schönsten Form. Gott, so sagt man, sieht ja alles von oben.


Bequemes Leben

Ich höre auf zu suchen.

Ich mach’s mir bequem

leg mich in die Sonne

schließe die Augen

genieße das Atmen

und lass mich finden.

Warum nicht.

Schlaf gut

Viele Geschichten werden über Jesus erzählt, auch wundersame. Eine davon will mir nicht aus dem Sinn. Er steigt in ein Boot und lässt sich hinausfahren auf den See, hin zu neuen Ufern. Auf Kissen gebettet fällt er in den Schlaf. Ein gewaltiger Sturm kommt auf. Die Wellen reißen das Boot hin und her. Es droht zu sinken und Jesus schläft. Seine Begleiter rütteln ihn wach, schreien ihn an: Wir gehen unter, hilf! Er stellt sich auf und befielt den Gewalten: Schweig! Verstumme!  Der Sturm entflieht, die Wellen werden sanft und eine große Stille legt sich nieder. Was für ein mächtiger Mensch. Wind und Wellen gehorchen seinen Worten. Noch erstaunlicher und nicht weniger wunderlich scheint mir die Fähigkeit zu sein, ruhig zu schlafen, während drum herum alles unterzugehen droht. Der Sturm, die Wellen, die Angstschreie der Menschen, all das bringt ihn nicht um den Schlaf. Dieser Mann scheint ein Maß an Geborgenheit zu empfinden, das mir nicht zu eigen ist. Wohl aber sehne ich mich danach. Kaum ein Leben bleibt unbewegt von wackligen Zeiten. Es kann stürmisch werden, die Wellen hochschlagen und der Boden zu wanken beginnen. Haltlosigkeit macht Angst und Angst raubt den Schlaf. Kontrollverlust. 

Jesus hatte scheinbar sehr wenig Angst. Er konnte schlafen. Hätten seine Begleiter ihn nicht geweckt und hätte er den Sturm nicht beruhigt, wäre das Schiff samt Menschen gesunken? Die Hinrichtung am Kreuz wäre ihm erspart geblieben und eine Erlösung der Welt hätte es so nicht gegeben. Oder glaubte er an einen Plan für sein Leben, an eine Notwendigkeit der Ereignisse? Er hätte sicher sein können, nicht in dem Boot unter zu gehen, wenn er sich sicher war am Kreuz sterben zu müssen. Ob ihn diese Gewissheit ruhig schlafen ließ auf dem Boot? 

Gibt es einen Plan auch für unser Leben, sodass wir ruhig schlafen könnten in turbulenten Zeiten? Es geschieht, was geschehen muss. Wir können nichts dazu tun und nichts wegnehmen. Wäre das Gottvertrauen? Mildert das die Angst? Lässt das gut schlafen? Ich bin mir nicht sicher.  Und wenn es keinen Plan gibt, nach dem Leben sich gestaltet, keine Aufgaben, die erfüllt werden müssen, keine Berufung zu irgendetwas außer zum Leben mit all seinen Verrücktheiten? Vielleicht ist die Zukunft völlig offen, vielleicht war sie völlig offen auch für Jesus. Vielleicht wäre die Welt auch anders erlöst worden, wenn sie überhaupt erlöst werden muss, wäre er auf dem See ertrunken. Die Kreativität des Göttlichen im Umgang mit der Freiheit sollte man nicht unterschätzen. Gott scheint mir nicht festgelegt. Er kennt viele Wege der Erlösung. In der Offenheit könnte sich Leben erfüllen und einem Ziel zustreben, über das wir nicht verfügen. Ist das Gottvertrauen?

Ich weiß nicht, was besser ist, was besser schlafen lässt, an einen Plan zu glauben oder an die Offenheit der Zukunft. Beides hat seinen Reiz. Ob es noch etwas Drittes gibt? 

Nachdem Jesus den Sturm beruhigt hatte, sagte er zu seinen Begleitern: „Warum seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ 

Was um alles in der Welt hat er mit „Glauben“ gemeint? Was ist das für eine innere Haltung, die Angst schwächt und gut schlafen lässt auf der Fahrt zu neuen Ufern, selbst wenn es stürmisch wird und der Untergang droht? Lernbar ist dieser „Glaube“ wohl. Lohnen würde es sich bestimmt. Weniger Angst vor der Zukunft ist angenehm, glaube ich.

Zen

Was passiert, wenn ein Mensch im Zustand vollkommener Wachheit aufhört zu denken? Seit fast 30 Jahren beschäftige ich mich mit christlicher Theologie und habe viele religiöse und philosophische Fragestellungen bedacht. Diese Frage aber, aufgeworfen durch das Praxiswochenende „Zen – Einführung“, war überraschend neu für mich. Christliche Theologie in europäischer also westlicher Tradition heißt zu denken. Annäherung an Wissen geschieht über einen diskursiven Prozess des Nachsinnens. Im westlichen  Verständnis ist die Fähigkeit des Menschen zu denken der bedeutende Weg zur Erschließung von Wirklichkeit. Hört ein Mensch zu denken auf, geht ihm Wirklichkeit verloren. Der Zen-Buddhismus setzt radikal dagegen: Hört ein Mensch zu denken auf, gewinnt er Wirklichkeit, und zwar die Wirklichkeit! Das ist der spirituelle Weg des Zen. Damit entzieht sich das Zen einer kritischen begrifflichen Betrachtungsweise, wie sie im Westen gepflegt wird. Das Zen kann nicht zum Forschungsobjekt gemacht werden, das Zen ist nicht „Etwas“, das zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden kann. Im Zen wird die westliche Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Das Zen ist keine Theorie, sondern eine lebendige Erfahrung. 

Die Möglichkeit sich dem Zen zu nähern ist sich auf das Zen einzulassen, und das heißt, sich auf praktische Übungen einzulassen, die sich über mehr als tausend Jahre dabei bewährt haben sollen, einen Zustand des Nichtdenkens zu erzeugen. Das war die Empfehlung des spirituellen Leiters und Zen Meisters  Alexander Poraj an die ca. 50 Teilnehmer ganz zu Anfang des Wochenendes: Lass Euch auf die Übungen ein und lasst Erfahrungen zu, die aus den Übungen fließen!  Am Anfang des Wochenendes steht also keine Lehre, stehen keine Glaubenssätze, sondern die schlichte Praxis und der Wunsch sie zu probieren. 

Die Übungen sind leicht: Stilles Sitzen, langsames Gehen, schnelles Gehen. Die Übungen sind schwer: Im Sitzen soll ich mich mit offenen Augen ganz auf mein Atmen konzentrieren. Mir aber schießen tausend Gedanken durch den Kopf, die mich hindern, mein Atmen wahrzunehmen. Beim langsamen Gehen soll jeder Schritt ganz bewusst gespürt werden. Je mehr ich das versuche, desto stärker wird der Gedankenfluss. Auch das schnelle Gehen kann das Denken nicht beruhigen. Ständig gleite ich ab in die Vergangenheit, in die Zukunft, in Vorstellungen, wie ich den Übungen gemäß zu sein habe. Ich beobachte die anderen, mutmaße, warum sie hier sind, was sie beruflich machen, und verliere mich dabei.

So lautet die erste Erfahrung: Ich denke ununterbrochen und bin dem Strom meiner Gedanken scheinbar machtlos ausgeliefert. Warum denke ich so viel? Welchen Sinn macht es sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, die nicht mehr ist und an der ich nichts ändern kann? Welchen Sinn macht es, sich mit Plänen für die Zukunft zu beschäftigen, die noch nicht ist und die sich nicht selten meinen Vorstellungen entzieht? Warum entwerfe ich ständig Ansprüche, Ideen, wie ich zu sein habe, wie ich gerne sein möchte? Warum bin ich den anderen um mich herum scheinbar näher als mir selbst? Warum ist es so schwer mich auf mein Atmen zu konzentrieren, auf die pure Gegenwart meines Lebens? Ich komme aus dem Denken nicht heraus. 

Um 5.45 Uhr in der Frühe beginnt der Tag: Schnelles Gehen im Kreis draußen im Schnee. Danach Sitzen im Meditationsraum, langsames Gehen, Frühstück, Hausarbeit , Treffen im Übungsraum, schnelles Gehen, Sitzen, usw. Alles geschieht im Schweigen. Dem Denken sollen die Reize entzogen werden. Ich soll ganz bei der Sache sein, die im Augenblick ist. Geredet wird nur wenn Teishō  ist, eine Darlegung und Unterweisung für die Übenden durch den Meister. Poraj spricht kurz und klar: Es braucht viele Jahre der Übung, bis es gelingt, den Gedankenstrom zu unterbrechen. Der westliche Bildungs- und Wirklichkeitsbegriff gründet  auf dem Denken. Wer so einseitig gebildet wird, dem fällt es schwer den Weg des Zen zu gehen. Was wir an Wirklichkeit durch unser Denken erschließen, ist nicht die eigentliche Wirklichkeit, sondern verhüllt sie. Das Denken konstruiert die Vorstellung einer äußeren Wirklichkeit der Dinge und einer inneren Wirklichkeit, dem Ich. Wird das Denken unterbrochen, fällt der Schleier der Vorstellungen und der Mensch erwacht zur unverstellten Gegenwart. Das ist Zen, ganz in der Gegenwart zu sein, gedankenlos im Moment des Seins zu verweilen, in dem sich das gedachte Ich und Etwas auflösen. Die Gegenwart ist leer von Beziehungen, frei von Dingen, nach denen Verlangen entstehen könnte. Im Zen wird nichts erlangt. In der  Wirklichkeit der Gegenwart ist alles da und die Gegenwart ist immer da im Gegensatz zur Vergangenheit und Zukunft, die im Moment nie sind.   

Rückfragen aus dem Teilnehmerkreis machen deutlich, wie irritierend Zen für einen im Denken gebildeten Menschen ist: Ist das nicht ein Widerspruch, üben und doch nichts erreichen können? Zen ordnet sich nicht dem aristotelischen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch unter. Zen ist widersprüchlich. Zen ist nicht für jeden vernunftbegabten Mensch mit Notwendigkeit einsehbar. Zen ist keine geschlossene Lehre, keine Religion, kein Lebenskonzept. Zen ist nichts wofür man mit Überzeugungskraft werben könnte. Zen ist einfach Zen.

Die westliche aristotelische Tradition des Denkens war mir bisher so selbstverständlich, so absolut, so wahr, dass mir keine Möglichkeit in den Sinn kam die Welt auch anders sehen zu können. Durch die Begegnung mit der Zen-Tradition erscheint der aristotelische Weg nicht mehr als die Wahrheit sondern als eine Möglichkeit. Zen relativiert mein Weltbild, Zen verunsichert mich, Zen fasziniert mich aber auch. Es ist möglich, die Welt auch radikal anders zu sehen. Das eröffnet  Freiheit.

Schon die erste Berührung im Kontaktstudium mit der buddhistischen Idee von der konditionalen Wechselbeziehung zwischen Objekt und dem Ich-Bewusstsein löste einen irritierenden Impuls bei mir aus: Das Objekt existiert nur, wenn es im Bewusstsein ist und das Bewusstsein  existiert nur, wenn es ein Objekt gibt. Verschwindet  es aus dem Bewusstsein, wird die Beziehung aufgehoben. Subjekt und Objekt verlöschen. Die Ich-Substanz, das Selbst, das im Hinduismus noch von Bedeutung ist, löst sich im Buddhismus auf. Es gibt  kein bleibendes Ich, keine Selbstgewissheit. Das Prinzip der Aufklärung  „Cogito ergo sum“ Ich denke, mithin bin ich –  verflüchtig sich zu einer Illusion. Eine beunruhigende Frage drängt sich auf: Wenn mein Ich eine Illusion ist, wer bin ich dann? Ein Tropfen, der ins Meer fällt? Ist das Zen, ist es das, wohin mich die Übungen führen sollen? Und will ich das? Ist das die Realität, die absolute Gegenwart hinter dem Schleier meiner Gedanken? Wie kann ich sie wahrnehmen, erkennen, wenn mein Ich nur Schein ist? 

Ob jemand im Geist des Zen erwacht ist, so Poraj, wird in der Beziehung von Meister zu Schüler, von Herz zu Herz bestätigt. Durch diese Bestätigung wird er zum Zen-Lehrer oder auch Zen-Meister. Die Aussage ist verwirrend und widersprüchlich wie einiges im Zen. Bestätigt sich das Zen nicht selbst im Herzen eines Menschen? Und was ist das für eine Beziehung zwischen den Herzen, die doch zwei Ich voraussetzt, sonst wäre eine Beziehung nicht möglich? Zen, so scheint mir, hat man dann verstanden, wenn man es als Geheimnis versteht und trotz der Widersprüche einfach den Weg des Zen geht. Das wäre in der denkerischen Tradition des Christentums kaum möglich, da die Beseitigung des Widerspruchs ein Voranschreiten erst möglich macht.

Leider war im Teishō keine Gelegenheit zu fragen, welchen Sinn das Denken macht, wenn es die Wirklichkeit durch Vorstellungen doch nur verschleiert und deshalb hinter sich gelassen werden soll durch Übungen. Schwierig wird eine Antwort, ruf man sich in Erinnerung, dass im Zen nichts erreicht wird, da alles schon da ist, also auch die Überwindung des Denkens. Von außen betrachtet hat der Zen-Buddhismus hier ein typisches  Motiv von Religion, nämlich das die Welt, wie sie erscheint, nicht wirklich ist, nicht die wahre Welt ist, sondern durch einen Weg der Erkenntnis und Erfahrung bewältigt und hinter sich gelassen werden muss. Eine Abwertung des Denkens scheint mir damit aber nicht verbunden zu sein. Poraj redet nicht gedankenlos und auch hinter dem Seminarhaus Benediktushof steht eine gedankliche Leistung. Möglicherweise denkt ein Mensch anders, wenn er die Erfahrung des Zen macht. Wenn er denkt, dann denkt er. Er achtet auf sein Denken, dass es gegenwärtig ist, auf den Augenblick. Aber was ist das, gegenwärtig denken? 

Auf meine Frage, ob nicht der Tod ein Zustand vollkommener Gegenwart ist, da mit dem Sterben das Denken erlischt, antwortet Poraj kurz, dass er über den Tod nichts sagen kann. Diese Aussage überrascht, denn die Deutung des Todes ist ein konstituierendes Element von Religion. Zen entzieht sich dem Religionsbegriff. Andererseits scheint mir die Aussage verblüffend ehrlich zu sein. Wer kann schon etwas über den Tod sagen ohne es Spekulation nennen zu müssen?

Und welchen Gewinn hat er, Poraj der Zen-Meister davon, sich auf den Weg des Zen einzulassen? Empfindet er mehr Freude, mehr Zuversicht, mehr Vertrauen? Es muss doch einen Mehrwert für die Bewältigung des Lebens geben, für den es sich lohnt, den Weg zu gehen. Reduzierung der Angst, mehr antwortet er nicht auf meine Frage. Eine bemerkenswerte Antwort. Über den Tod kann er nichts sagen, aber er könnte einen erleichternden Umgang mit ihm durch Zen gefunden haben. Es verwundert, dass er die Antwort nicht positiv formuliert.

Mir fällt auf, wie im Laufe des Wochenendes meine Lust Fragen zu stellen weniger wird. Ich nehme die Übungen, wie sie sind und nehme, was passiert. Ist das schon Zen, das Leben ganz einfach zu nehmen wie es im Moment ist, ohne Antworten, Urteile, Wertungen und Vorstellungen, die aus dem Denken fließen? Ist das Leben so einfach wie die Übungen?

Es bleiben Fragen zurück. Aber diese Fragen scheinen mir milder geworden zu sein. Sie drängen nicht mehr so stark nach Antworten. Es sind Fragen, mehr nicht. Fragen sind nur eine Möglichkeit sich dem Leben zu nähern. Leben vollzieht sich auch ohne Antworten.

Am Ende des Seminars werden wir aufgefordert, unseren Meditationsplatz wieder fein herzurichten, die überflüssigen Dinge an ihre Orte zu bringen und die Sitzdecke mit der Hand gerade zu streichen, als wollte man mit der äußeren Ordnung die inneren Widersprüche etwas glätten.

Auf dem Weg nach Hause beschleicht mich ein ungewohntes Gefühl: Das kurze Wochenende am Benediktushof kommt mir sehr seltsam lang vor, als hätte sich die Zeit gestreckt und mein Lebensstrom  verlangsamt  beim stillen Sitzen, langsamen Gehen, schnellen Gehen, beim Tischdecken und Schweigen. War das schon ein Hauch von Zen? 

Alles wird neu

Karfreitag und Ostern erinnern an eine Merkwürdigkeit. Erwachen, Neuwerden und Weiterkommen – Erkennen, Verstehen und Reifen gelingt nicht nur durch Freude, Leichtigkeit, Wohlgefühl und Gesundheit. Auch Leid und Mangel an Glück können eine Kraft sein in Liebe und Erkenntnis zu wachsen. So etwas wie Auferstehung, so etwas wie Angstfreiheit, so ein Lebensgefühl, das mit guter Hoffnung über Schmerz und Tod hinausgeht, kann Gewinn sein aus einem schwierigen Lebensabschnitt. Ohne Geburtsschmerz kommt niemand ins Licht. Das ist eine Merkwürdigkeit im Leben, die wohl ihren schärfsten Ausdruck im Kreuz findet. Eine qualvolle Hinrichtungsart wird zum Symbol der Hoffnung. 

Die Vorstellung in den Kirchen würde über dem Altar statt eines Kreuzes ein Galgen oder eine Giftspritze hängen, lässt ahnen, wie unerhört und radikal seit Karfreitag und Ostern mühsames Leben verstanden werden kann. Es könnte eine Neugeburt sein, eine Auferstehung, ein Werden ins Licht. 

Radikal war nicht selten auch ein Missverständnis des Kreuzes. Menschen fingen an Leid zu verherrlichen, es bewusst zu suchen, sich zu kasteien und zu quälen. Sie fingen an Leid zu benutzen, um Anerkennung und Selbstwert zu steigern, um Gott und Menschen zu gefallen. Sie fühlten sich gut im Verzicht, opferten sich auf und ließen sich bewundern. Lust und Freude war ihnen verdächtig, sich helfen zu lassen fast eine Sünde. Leben musste schwer sein, sonst ist es nichts wert. 

So kann man es machen, so machen es Menschen noch heute. Zu empfehlen ist es nicht. Leid muss nicht gesucht werden, sonst wird es zu viel. Es kommt von alleine, schleicht sich ein hin und wieder, weil es zum Leben gehört. Und das reicht. Wenn es kommt, kann man ihm ausweichen wollen, sich dagegen stemmen und kämpfen mit aller Gewalt. In einer Kultur, die nur im Wohlgefühl Sinn vermutet, ist das verständlich.  

Ostern erinnert an eine andere Möglichkeit, schwierige Zeiten und Ereignisse zu durchleben ohne Leidenslust, sie anzunehmen mit einem ängstlichen Ja in dem verrückten Glauben, sie könnten einen Wert haben für mein Leben, für mein Werden, es könnte eine Kraft in ihnen wohnen, die mich wachsen lässt an Liebe und Erkenntnis, die mich auferstehen lässt durch Tode hindurch in etwas Neues hinein. 

Deutlich wird der Gewinn oft erst in der Rückschau, wenn man es hinter sich hat. Mitten drin im Schlamassel ist es schwer guter Hoffnung zu sein. Aber nicht unmöglich. Sich helfen zu lassen gibt der Hoffnung Kraft.

So mancher verweigert sich hoffnungsvollen Antworten und zieht es vor im Schmerz zu verbittern. Für andere könnte es eine Hilfe sein alle Jahre wieder Ostern erinnert zu werden an das große Werden, in dem wir alle leben, an Vergehen und Auferstehen, denen wir nicht ausweichen können, zu hören von schwierigen Lebenserfahrungen, die zum Gewinn werden können, vom Leid, das nicht ohne Sinn sein muss. Sich diesem Leben zu stellen in all seiner Vielfalt, es nicht zu meiden, sondern zu leben als ginge es um Auferstehung, scheint mir einen Versuch wert. Alles wird neu, immer wieder. So ist es. Frohe Ostern!

Wechseljahre

Kinder machen aus einem Liebespaar Eltern. Das ist ein starker Wechsel. Der Blick wendet sich vom Partner ab und den Kindern zu. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern die verantwortliche Elternschaft. Die Gesprächsthemen ändern sich, die Aufgaben, die Tagesgestaltung, die Einrichtung der Wohnung, der Urlaub, das Auto, die Ängste und die Liebe. Für die einstige traute Zweisamkeit bleibt weniger Raum in der Familienwelt. Ganz ungefährlich ist das nicht, jedenfalls nicht für jene, die herzlich Gefallen haben an einem lebenslangen Glück zu zweit. Die Kinder könnten über die Jahre zur Bindekraft der Beziehung werden und die erste Liebe klammheimlich verdrängen. 

Spürbar wird der Beziehungswandel, wenn die Kinder selbständig werden, das Haus verlassen und ganz natürlich ihr eigenes Leben bauen. Die Eltern bleiben allein zurück und werden wieder ein Paar, sitzen allein am Tisch, fahren allein in den Urlaub und suchen nach Gesprächen jenseits der Kinder. Was bleibt von der Beziehung, wenn die Kinder groß sind? Sind beide noch ein Liebespaar wie einst oder nur noch austrainierte Eltern im Ruhestand? Macht die Zweisamkeit noch Sinn ohne Kinder im Haus? Die Möglichkeiten mit der neuen Lage umzugehen sind zahlreich.

Die Kinder nicht loszulassen, sie weiter zu binden, ist eine von ihnen. Die Elternschaft wird fortgelebt und die Beziehung bleibt stabil. Andere trennen sich, weil die Liebe füreinander weniger geworden ist in der Zeit der engen Familie. Es macht keinen Sinn mehr beisammen zu sein. Die Ehe hat sich erfüllt mit der Erziehung der Kinder. Neues Glück will gefunden werden. Einige machen trotzdem weiter. Die Angst vor dem Alleinsein ist größer als Öde und Langeweile am Frühstückstisch.  Die Zweisamkeit zu pflegen in Zeiten der Elternschaft ist auch eine Variante. Wer nicht für die Kindern sondern mit den Kindern lebt, könnte die Wechseljahre weniger wackelig durchgehen und die Zweisamkeit länger genießen. Aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit sich das steuern lässt. Die einen trennen sich, die anderen bleiben zusammen und es ist wirklich schwer zu sagen warum. Ebenso schwer lässt sich verstehen, warum von der Liebe ohne Trennung so viel Glück erwartet wird. 

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